Beschluss vom 21.05.2025 -
BVerwG 2 WDB 15.24ECLI:DE:BVerwG:2025:210525B2WDB15.24.0

Erfolgreiche Beschwerde gegen Einstellung des Disziplinarverfahrens

Leitsatz:

Die Einstellung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens gegen einen früheren Soldaten kann nicht damit begründet werden, dass die Anschuldigungspunkte bereits bei der Entlassung vorgelegen, aber nur zu einer Entlassung wegen Eignungsmängeln geführt haben.

  • Rechtsquellen
    BGB § 242
    SG § 55 Abs. 4 und 5, § 56 Abs. 2 und 3
    WDO § 18 Abs. 1, § 110 Abs. 3 Satz 1, § 147 Abs. 1 Satz 1

  • TDG Nord 5. Kammer - 09.10.2024 - AZ: N 5 VL 10/24

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.05.2025 - 2 WDB 15.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:210525B2WDB15.24.0]

Beschluss

BVerwG 2 WDB 15.24

  • TDG Nord 5. Kammer - 09.10.2024 - AZ: N 5 VL 10/24

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Häußler, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Burmeister und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Henke am 21. Mai 2025 beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird der Beschluss des Vorsitzenden der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 9. Oktober 2024 aufgehoben.
  2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem früheren Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen trägt der Bund.

Gründe

I

1 Die Beschwerde richtet sich gegen die Einstellung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens.

2 1. Der frühere Soldat trat im Januar ... als Wiedereinsteller seinen Dienst als Soldat auf Zeit an und wurde als Unteroffizier (FA) mit bestandskräftigem Bescheid vom 9. August 2018 gestützt auf § 55 Abs. 4 Satz 2 SG mit Ablauf des 15. September 2018 aus dem Dienstverhältnis eines Unteroffiziers und Feldwebelanwärters mit der Begründung entlassen, er habe sich im Januar 2018 unter anderem durch Verwenden des Hitlergrußes rechtsextremistisch und diskriminierend verhalten. Ihm fehle die charakterliche Eignung für den Soldatenberuf. Die mangelnde Eignung lasse auch eine Rückführung in die frühere Laufbahn nicht zu. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass mit der Entlassung seine Überführung in die Laufbahn der Fachunteroffiziere der Reserve verbunden sei.

3 2. Nachdem unter dem 3. Juni 2019 das gerichtliche Disziplinarverfahren eingeleitet worden war, wurde der frühere Soldat mit Anschuldigungsschrift vom 18. März 2024 angeschuldigt, durch im Entlassungsbescheid beschriebene Verhaltensweisen unter anderem gegen die Pflicht zur Verfassungstreue verstoßen zu haben.

4 3. Der Vorsitzende der 5. Kammer des Truppendienstgericht Nord (im Folgenden: Vorsitzender) hat das Verfahren durch Beschluss vom 9. Oktober 2024 wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt.

5 Der Zulässigkeit des Verfahrens stehe entgegen, dass der frühere Soldat bereits nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG entlassen worden sei. Das gerichtliche Disziplinarverfahren diene offenkundig dazu, dessen Wiederverwendung zu verhindern und damit die Folgen einer nicht mehr zulässigen Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG zu erreichen. Der damit begründete Verstoß gegen das Übermaßverbot führe zu einem schweren Verfahrensmangel. Dem Dienstherrn sei es zwar nicht grundsätzlich verwehrt, gegen einen nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG entlassenen Soldaten aus denselben Gründen ein gerichtliches Disziplinarverfahren einzuleiten, weil Entlassung und gerichtliches Disziplinarverfahren unterschiedlichen Gesetzeszwecken dienten. Raum für Letzteres bestehe aber nur, wenn bei einer Entlassung wegen Nichteignung die Frage der truppendienstlichen Wiederverwendung nicht zur Erörterung gestanden habe. Diese wesentliche Voraussetzung liege hier nicht vor, weil es aktenkundig ursprünglich Ziel der personalführenden Stelle gewesen sei, den früheren Soldaten aus dem aktiven Truppendienst zu entfernen, um auf diesem Wege seine Wiederverwendung auch als Reservist zu verhindern. Nur weil der frühere Soldat seine ersten vier Dienstjahre im bereits laufenden Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 5 SG beendet habe, sei "ersatzweise" auf eine Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG wegen Nichteignung für die Feldwebellaufbahn umgeschwenkt worden. Diese Entlassung habe aber offenkundig nicht der "Qualitätssicherung", nämlich nur geeignete Soldaten in bestimmten Laufbahnen zu verwenden, gedient. Denn in der Entlassungsverfügung heiße es auch, dass der frühere Soldat die Eignung für die Feldwebellaufbahn deshalb nicht aufweise, weil er durch die Taten seine charakterliche Nichteignung für den Soldatenberuf offenbart habe. Ziel des Entlassungsverfahrens sei daher von Anfang an gewesen, jegliche weitere truppendienstliche Verwendung zu verhindern. Deshalb bestehe kein Raum mehr, nach einer auf § 55 Abs. 4 Satz 2 SG gestützten Entlassung in einem gerichtlichen Disziplinarverfahren über den Verlust des Reservedienstgrads zu entscheiden. Denn entlasse der Dienstherr einen Soldaten nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG, weil er ihn generell als untragbar einschätze, unter der Vorgabe, er sei "lediglich" nicht zum Feldwebel geeignet, ohne den Ausgang eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens in derselben Sache abzuwarten, müsse er es dabei bewenden lassen. Denn er habe damit deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich in erster Linie "irgendwie" vom Soldaten trennen wolle, ohne an der Aufklärung der Vorwürfe interessiert zu sein.

6 Auch wenn keine gesetzliche Rangfolge zwischen § 55 Abs. 5 und Abs. 4 Satz 2 SG bestehe, widerspreche es der Systematik des Soldatengesetzes in Wechselwirkung mit der Wehrdisziplinarordnung, wenn in wie hier gelagerten Fällen die an sich angestrebten Folgen einer Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG durch eine Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG sowie durch ein nachfolgendes Disziplinarverfahren herbeigeführt werden sollten. Denn Soldaten, bei denen ihre grundsätzliche Eignung zum Soldatenberuf und nicht nur die für die Laufbahn in Frage stehe, dürften nur in den ersten vier Dienstjahren durch Verwaltungsakt fristlos entlassen werden. Bei Soldaten, die aufgrund der geleisteten Dienstzeit nicht mehr nach § 55 Abs. 5 SG entlassen werden könnten, obliege die Entscheidung über deren Entfernung aus dem Dienstverhältnis den Truppendienstgerichten im gerichtlichen Disziplinarverfahren. Dies folge im Umkehrschluss auch daraus, dass nach § 143 Abs. 2 WDO ein Soldat, gegen den ein gerichtliches Disziplinarverfahren anhängig sei, wegen derselben Tat nicht mehr nach § 55 Abs. 5 SG entlassen werden dürfe.

7 Demzufolge wäre gegen den früheren Soldaten, der bereits länger als vier Jahre gedient habe, ein gerichtliches Disziplinarverfahren mit dem Ziel einzuleiten gewesen, dessen Entfernung aus dem Dienstverhältnis - mit jeglichem Statusverlust - zu bewirken. Nur auf diese Weise wäre dem Übermaßverbot Rechnung getragen. Mit dem erst nach der Entlassung geführten gerichtlichen Disziplinarverfahren werde der frühere Soldat über Gebühr belastet. Er habe bereits mit der Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG sowohl seine Ruhegehaltsansprüche als auch die Besoldung und damit seine militärisch-berufliche Existenz verloren. Erheblich geringere Nachteile hätte er erlitten, wenn zunächst nur das gerichtliche Disziplinarverfahren gegen ihn als dann noch aktivem Soldaten eingeleitet worden wäre. Er wäre weiter besoldet worden und hätte, falls keine Höchstmaßnahme ausgesprochen worden wäre, seine Versorgungsbezüge weitgehend behalten. Die erhebliche Belastung sei auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil diese Maßnahme wirksamer wäre als andere. Mit dem Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG werde nicht bezweckt, einen Soldaten aus dem Dienst zu entfernen, denn nach Satz 3 sei dieser nicht zu entlassen, wenn er zuvor in einer anderen Laufbahn verwendet worden sei. Habe sich der Dienstherr endgültig mit der Begründung getrennt, dass der Soldat nicht mehr tragbar sei, bedürfe es keiner nachträglichen Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens mehr. Dass für die Maßnahmen unterschiedliche Dienststellen zuständig gewesen seien, ändere daran nichts, da derselbe Dienstherr agiere.

8 4. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Wehrdisziplinaranwaltschaft gegen die Annahme eines Verfahrenshindernisses. Die Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach einer vorhergehenden Entlassung gemäß § 55 Abs. 4 Satz 2 SG verstoße nicht gegen das Übermaßverbot. Der Beschluss konstruiere zu Unrecht einen Vorrang des gerichtlichen Disziplinarverfahrens vor einem Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 4 SG in Fällen, in denen die mangelnde Laufbahneignung auf Dienstpflichtverletzungen gestützt werde. Wenn überhaupt ein Vorrangverhältnis zwischen den grundsätzlich unabhängigen Verfahren bestehe, spreche alles für einen Vorrang des Entlassungsverfahrens. In § 143 WDO (a. F.) gebe der Gesetzgeber offensichtlich diesem den Vorrang. Auch wenn diese Regelung ausdrücklich nur die Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG benenne, sei der darin zum Ausdruck kommende Gedanke mangels abweichender gesetzlicher Hinweise auf andere Entlassungstatbestände zu übertragen. Der Zweck der Gesetzesänderung zu § 55 Abs. 4 SG sei gewesen, der militärischen Personalführung ein Höchstmaß an Flexibilität zu verschaffen. Dies spreche ebenfalls dagegen, dass ein Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG erst nach Abschluss eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens erfolgen dürfe. Schließlich reduziere das Truppendienstgericht § 55 Abs. 4 Satz 2 SG unzulässig darauf, dass damit ausschließlich die Verwendung in einer höheren Laufbahn verhindert werden könne, nicht aber auch die "Entfernung" aus dem Dienstverhältnis dessen Ziel sei. Auch § 55 Abs. 4 Satz 2 SG ermögliche und bezwecke die endgültige Trennung des Dienstherrn vom Soldaten. Dabei setze die Rückführung in die vorherige Laufbahn denklogisch voraus, dass der Soldat auch für diese Laufbahn tauglich sei. Dies sei nicht gegeben, wenn die Pflichtverstöße die Eignung zum Soldaten insgesamt ausschlössen.

II

9 Die zulässige Beschwerde, über die gemäß Art. 5 des Dritten Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und zur Änderung weiterer soldatenrechtlicher Vorschriften (3. WehrDiszNOG) vom 17. Dezember 2024 (BGBl. I Nr. 424) auf der Grundlage der neuen Wehrdisziplinarordnung zu entscheiden ist, ist begründet. Ein Verfahrenshindernis, welches nach § 110 Abs. 3 Satz 1 WDO zur Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens führen muss, liegt nicht vor.

10 1. Unter den Begriff eines Verfahrenshindernisses nach § 110 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 WDO fallen alle Umstände, die der Fortführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens von Rechts wegen entgegenstehen, also diese verhindern (zum gleichlautenden: § 108 Abs. 3 WDO a. F.: BVerwG, Beschlüsse vom 16. Juli 2014 - 2 WDB 5.13 - BVerwGE 150, 162 Rn. 9 m. w. N. und vom 10. Juli 2018 ‌- 2 WDB 2.18 - BVerwGE 162, 325 Rn. 5). Dazu zählen etwa fehlende allgemeine Verfahrensvoraussetzungen wie die Verfolgbarkeit von Täter und Tat (BVerwG, Beschluss vom 13. April 2021 - 2 WDB 1.21 - BVerwGE 172, 154 Rn. 9) sowie schwere Mängel des Verfahrens, die nicht auf andere Weise geheilt werden können, wie die Weigerung der Wehrdisziplinaranwaltschaft, einen Mangel im Sinne des § 102 Abs. 3 Satz 1 WDO zu beseitigen (zu § 99 Abs. 3 Satz 1 WDO a. F.: BVerwG, Beschluss vom 13. April 2021 - 2 WDB 1.21 - BVerwGE 172, 154 Rn. 9). Die Fortsetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens verbietet sich zudem, wenn ein früherer Soldat bereits auf andere Weise alle Rechte aus seinem Dienstverhältnis verloren hat (BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2025 ‌- 2 WDB 5.24 - juris Rn. 8 ff.: zur Verzichtserklärung eines Soldaten), eine extreme Verfahrensüberlänge (BVerwG, Urteil vom 28. September 2021 - 2 WD 11.21 - juris Rn. 24 ff.) vorliegt oder - wie vorliegend vom Vorsitzenden angenommen - die Verfahrensfortführung unverhältnismäßig ist (BVerwG, Urteil vom 10. Mai 2023 - 2 WD 14.22 - juris Rn. 20; zusammenfassend: BVerwG, Beschlüsse vom 13. Juli 2022 - 2 WDB 5.22 - juris Rn. 12 und vom 10. Februar 2025 - 2 WDB 5.24 - juris Rn. 8).

11 2. Die Einstellung des Verfahrens ist nicht bereits nach § 147 Abs. 1 Satz 1 WDO geboten. Denn zum einen steht fest, dass das Dienstverhältnis des früheren Soldaten durch Entlassungsbescheid unanfechtbar beendet ist; zum anderen lag keine auf § 55 Abs. 5 SG, sondern eine auf § 55 Abs. 4 Satz 2 SG gestützte Entlassungsverfügung vor (siehe auch BVerwG, Urteil vom 2. April 1974 - 2 WD 5.74 - BVerwGE 46, 244 <246>). Eine analoge Anwendung des § 147 Abs. 1 Satz 1 WDO auf Entlassungen nach § 55 Abs. 4 SG könnte allenfalls zur Folge haben, dass ein gerichtliches Disziplinarverfahren bis zum Abschluss eines solchen Entlassungsverfahrens nicht eingeleitet oder fortgesetzt werden darf. Eine Analogie mit der Folge, dass das gerichtliche Disziplinarverfahren im Hinblick auf die bestandskräftige Entlassung einzustellen wäre, verbietet sich mangels einer Regelungslücke. Denn § 147 Abs. 1 Satz 1 WDO ermöglicht nur die vorübergehende Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens, während die endgültige Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens - wie § 131 Abs. 1 Nr. 3 WDO zeigt - vom Verlust des Dienstgrads und der sonstigen Rechte aus dem Dienstverhältnis abhängt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2025 ‌- 2 WDB 5.24 - juris Rn. 8 m. w. N.)

12 3. Dem gerichtlichen Disziplinarverfahren steht ebenso wenig entgegen, dass die Disziplinarvorgesetzte wegen der anstehenden Entlassung des früheren Soldaten mit Absehensverfügung vom 6. Juli 2018 gemäß § 36 Abs. 1 WDO a. F. davon Abstand genommen hat, gegen ihn eine einfache Disziplinarmaßnahme zu verhängen. Das Verbot der mehrfachen disziplinarischen Ahndung gilt nach § 18 Abs. 1 Satz 2 WDO nicht, wenn die Einleitungsbehörde - wie vorliegend - nachträglich gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1 WDO (§ 96 Abs. 1 Satz 1 WDO a. F.) die Ahndung mit einer gerichtlichen Disziplinarmaßnahme für geboten erachtet (Dau/​Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 96 Rn. 2).

13 4. Der Durchführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens steht auch nicht allein deswegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot entgegen, weil bereits ein Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG stattgefunden hat. Zwar kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein Verfahrenshindernis begründen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Mai 2023 - 2 WD 14.22 - NZWehrr 2023, 355 Rn. 20 und Beschluss vom 10. Februar 2025 - 2 WDB 5.24 - juris Rn. 13). Im vorliegenden Fall ist die Durchführung eines nachfolgenden Disziplinarverfahrens jedoch eine (a) geeignete, (b) erforderliche und (c) angemessene Maßnahme, um die moralische Integrität des Reserveunteroffizierkorps zu sichern.

14 a) Durch die bestandskräftige Entlassung eines Unteroffiziers, der sich als Feldwebelanwärter nach § 55 Abs. 4 Satz 2 Nr. 5 SG nicht zum Aufstieg in die Feldwebellaufbahn eignet, wird zwar die aktive Berufstätigkeit beendet. Der ausgeschiedene Soldat behält aber - wie hier - seinen früheren Dienstgrad als Unteroffizier. Dies folgt aus § 56 Abs. 2 SG, der nur im Fall der verhaltensbedingten Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG den gesetzlichen Verlust des Dienstgrads bewirkt. Der frühere Soldat kann zu Übungen herangezogen und muss im Verteidigungsfall mit seinem Dienstgrad als Unteroffizier verwendet werden. Liegt neben dem Eignungsmangel ein Dienstvergehen vor und stehen - wie hier - sogar verfassungsfeindliche Aktivitäten im Raum, so dient die nachfolgende Durchführung eines Disziplinarverfahrens gegen einen Unteroffizier dem legitimen Gemeinwohlziel, die Disziplin und Integrität des Reserveunteroffizierkorps zu gewährleisten. Dieses Ziel war für den Gesetzgeber so bedeutsam, dass er sogar ein unwürdiges Verhalten oder eine verfassungsfeindliche Betätigung nach dem Ende der aktiven Dienstzeit in § 23 Abs. 2 Nr. 2 SG einem Dienstvergehen gleichgestellt und dafür die disziplinare Ahndung angeordnet hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. August 2024 - 2 WD 6.24 - NVwZ-RR 2024, 1002 Rn. 32 m. w. N.).

15 Die Durchführung eines Disziplinarverfahrens ist dafür ein geeignetes Mittel. Das kann auch nicht mit dem Argument bestritten werden, dass ein Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG ein späteres Disziplinarverfahren generell rechtlich ausschließt. Da Entlassungen nach § 55 SG keine disziplinarischen Maßnahmen bilden (BVerwG, Urteil vom 28. Juli 2011 - 2 C 28.10 -‌ BVerwGE 140, 199 Rn. 10; VG Kassel, Beschluss vom 19. September 2019 ‌- 1 L 2103/19.KS - juris Rn. 47), steht auch eine nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG ausgesprochene Entlassung der Durchführung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht entgegen (BVerwG, Urteil vom 2. April 1974 - 2 WD 5.74 -‌ BVerwGE 46, 244 <246> und Beschluss vom 21. Juli 1976 - 6 B 1.76 - ZBR 1976, 312 <313>). Dies gilt auch, wenn im Entlassungsverfahren eine Entlassung des früheren Soldaten nach § 55 Abs. 5 SG in den Blick genommen worden ist und damit - anders als im vom Senat am 2. April 1974 entschiedenen Fall - die Frage der Wiederverwendung des Soldaten als Reserveunteroffizier bereits im Entlassungsverfahren im Raum gestanden hat. Denn die Entlassung nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG kann mangels disziplinaren Charakters nicht das Verbot der mehrfachen Verhängung von Disziplinarmaßnahmen des § 18 Abs. 1 Satz 1 WDO auslösen. Dass die Entlassung mangels Aufstiegseignung nach § 56 Abs. 3 SG zum Fortfall von Dienstbezügen und - soweit nichts anderes bestimmt ist - von Versorgungsleistungen führt, ändert daran nichts. Denn diese Einstellung finanzieller Leistungen ist die Folge einer vorzeitigen Beendigung eines Soldatenverhältnisses, die auf einem Eignungsmangel und nicht auf einem Schuldvorwurf beruht. Sie hat daher keinen Sanktionscharakter.

16 Ein nachfolgendes Disziplinarverfahren ist hier nicht ausnahmsweise nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ausgeschlossen, weil die Entlassungsbehörde mit der auf einen Eignungsmangel gestützten Entlassung die zum Schutz des Soldaten im Disziplinarrecht bestehenden Vorschriften umgangen hätte. Verfassungsfeindliche Aktivitäten eines Unteroffiziers bilden zwar regelmäßig Dienstpflichtverletzungen, die disziplinarrechtlich verfolgt werden können. Sie sind aber häufig zugleich Ausdruck einer fehlenden Verfassungstreue, die eine mangelnde charakterliche Eignung im Sinne des § 55 Abs. 4 SG begründet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1976 - 6 B 1.76 - ZBR 1976, 312 <312>; BayVGH, Urteil vom 6. Februar 2025 - 6 B 24.629 - juris Rn. 23 bis 30; VG München, Beschluss vom 20. April 2020 - M 21b S 20.286 - juris Rn. 39).

17 Es gibt daher Fälle, in denen sowohl die disziplinarrechtlichen wie die soldatenrechtlichen Eingriffsvoraussetzungen erfüllt sind. Soweit das Truppendienstgericht die Auffassung vertritt, in diesem Überschneidungsbereich habe in den ersten vier Dienstjahren eines Soldaten das Entlassungsregime des § 55 Abs. 4, Abs. 5 SG den Vorrang, während danach der Schutz des für die Soldaten günstigeren Disziplinarrechts eingreife, überzeugt dies nicht. Denn das Gesetz lässt in § 55 Abs. 4 Satz 2 SG die Entlassung wegen mangelnder Aufstiegseignung auch nach Ablauf der Vierjahresfrist zu (vgl. BT-Drs. 14/4062 S. 23). Ebenso ist die Entlassung bei der Unterstützung verfassungswidriger Bestrebungen und Zusammenschlüsse (§ 55 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 46 Abs. 2a SG) nicht auf die ersten vier Dienstjahre beschränkt. Es gibt daher gerade keine klare zeitliche Abgrenzung. Schließlich gibt es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die den grundsätzlichen Vorrang des gerichtlichen Disziplinarverfahrens vor dem Entlassungsverfahren festlegen würde. Daher kann der Vorwurf, die Entlassungsbehörde habe mit der Durchführung eines Entlassungsverfahrens nach § 55 Abs. 4 Satz 2 SG treuwidrig disziplinarrechtliche Schutzvorschriften umgangen, nicht erhoben werden. Im Übrigen wäre dem früheren Soldaten die Berufung auf die Rechtswidrigkeit der Entlassung nach § 55 Abs. 4 SG jedenfalls deswegen abgeschnitten, weil er dagegen keinen Rechtsbehelf eingelegt hat. Da der Bescheid in Bestandskraft erwachsen ist, ist dessen Rechtmäßigkeit damit der gerichtlichen Überprüfung entzogen. Dies verbietet auch, die mit der Entlassung verbundenen Folgen - wie den Verlust der Dienstbezüge und des Ruhegehalts - bei der Bestimmung der Unverhältnismäßigkeit als maßgebliche Faktoren einzubeziehen, denn dem früheren Soldaten hätte es offen gestanden, sie durch Einlegung eines Rechtsbehelfs abzuwehren.

18 b) Die Durchführung eines nachfolgenden Disziplinarverfahrens ist im vorliegenden Fall auch erforderlich. Denn das Ziel, die moralische Integrität des Reserveunteroffizierskorps zu gewährleisten, kann durch kein milderes Mittel erreicht werden. Da mit dem Entlassungsverfahren gerade keine disziplinarrechtliche Verfolgung des im Raum stehenden Dienstvergehens verbunden war, steht dies weiterhin aus.

19 Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Entlassungsbehörde mit der Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG ein gleich wirksames und weniger belastendes Mittel zur Verfügung stand. Zwar ist es prozessual betrachtet für den betroffenen Soldaten regelmäßig weniger belastend, wenn ihm gegenüber nur ein verhaltensbedingtes Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 5 SG betrieben wird und er sich nicht nach- oder nebeneinander wegen derselben Vorwürfe in einem Entlassungsverfahren wegen Eignungsmängeln im Verwaltungsrechtsweg und in einem verhaltensbedingten Disziplinarverfahren vor den Wehrdienstgerichten verteidigen muss. Damit übereinstimmend geht auch die Gesetzesbegründung zu § 55 Abs. 4 SG davon aus, dass in den Fällen, in denen die Nichteignung auf den in § 55 Abs. 5 SG genannten Gründen beruht, allein nach dieser Bestimmung zu verfahren sei (BT-Drs. 14/4602 S. 23). Dieser Gedanke hat aber keinen greifbaren Niederschlag in Wortlaut oder Systematik des Gesetzes gefunden. In § 55 SG ist gerade kein unbedingter Vorrang eines Entlassungstatbestands zu finden, so dass die Entlassungsbehörde sich bei der Auswahl unter mehreren in Betracht kommenden Entlassungstatbeständen auch im Interesse der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr von Effektivitätsüberlegungen leiten lassen darf. Daher gilt eine Entlassung auf der Grundlage der sicheren Feststellung des Tatbestandes der Nichteignung dann als ermessensfehlerfrei, wenn der Tatbestand des § 55 Abs. 5 SG nicht sicher erfüllt ist (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 2. Mai 2022 - 1 A 1397/20 - juris Rn. 88 ff. m. w. N.). Im vorliegenden Fall ist somit die Entscheidung der Entlassungsbehörde für eine Entlassung nach § 55 Abs. 4 SG, weil eine Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG angesichts des Ablaufs der Vierjahresfrist bei dem früheren Soldaten scheitern könnte und weniger schwer nachzuweisen wäre, nicht ermessensfehlerhaft. Daher war sie nicht gehalten, die Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG als gleich wirksame und schonendere Maßnahme zu betreiben. Im Übrigen hätte es dem früheren Soldaten offen gestanden, diese Auswahlentscheidung im Verwaltungsrechtsweg anzugreifen, so dass auch insofern ein etwaiger Ermessensfehler unbeachtlich geworden ist.

20 c) Die mit dem Entlassungsverfahren nach § 55 Abs. 4 SG verbundene Notwendigkeit der Durchführung eines zusätzlichen gerichtlichen Disziplinarverfahrens ist auch nicht generell unverhältnismäßig im engeren Sinne. Vielmehr ist die Frage, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu einem Verfahrenshindernis führt, stets unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalls zu beantworten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2025 - 2 WDB 5.24 - juris Rn. 15). Im vorliegenden Fall ist die Schwelle der Unzumutbarkeit einer weiteren Durchführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht erreicht. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Entlassung nach § 55 Abs. 4 SG schnell zur Beendigung des aktiven Berufsverhältnisses geführt und den durch das vorläufige Dienstausübungsverbot nach § 22 SG geschaffenen Schwebezustand zügig beendet hat. Da der frühere Soldat dagegen keine Rechtsbehelfe eingelegt hat, sind ihm auch konkret keine hohen Rechtsverfolgungskosten entstanden, die zu erheblichen Mehrbelastungen geführt hätten. Da der frühere Soldat sich aufgrund der bestandskräftigen Entlassung mittlerweile beruflich neu orientieren konnte, hat das nachfolgende Verfahren auch geringere Auswirkungen, weil die im gerichtlichen Disziplinarverfahren selbst im Extremfall nur noch drohende Aberkennung des Dienstgrades diesen nur noch im Reservistenstatus, folglich nicht mehr in seinem aktuellen Berufsleben trifft und ihm allenfalls wegen einzelner Versorgungsleistungen finanzielle Nachteile drohen. Gründe in der Person des früheren Soldaten, die auf eine besondere Belastungssituation hindeuten könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Schließlich können die mit der Durchführung eines nachfolgenden disziplinarrechtlichen Verfahrens verbundenen zusätzlichen zeitlichen, psychischen und finanziellen Belastungen bei der Leitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens abgemildert werden. Insbesondere kann dem früheren Soldaten eine Entscheidung durch Disziplinargerichtsbescheid angeboten werden. Ferner kann erwogen werden, ob es bei einer disziplinarischen Ahndung des früheren Soldaten nicht im Sinne des § 142 Abs. 1 Satz 2 WDO unbillig ist, ihn angesichts des wenig stringenten und zum gerichtlichen Disziplinarverfahren führenden Entlassungsverfahrens mit den Kosten zu belasten.

21 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 Satz 3, § 144 Abs. 3 Satz 3 WDO. Es wäre unbillig, den früheren Soldaten mit den Kosten des Rechtsmittels zu belasten (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Januar 2019 - 2 WDB 1.18 - ‌juris Rn. 19 und vom 10. Februar 2025 - 2 WDB 5.24 - juris Rn. 17).